Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort
Hinter der Tollpatschigkeit steckt oft viel mehr.
Häufig fallen sie durch Ungeschicktheit auf, sind schluderig und wirken irgendwie langsamer als andere Kinder.
„Steckt eine Dyspraxie dahinter, ist diese Tollpatschigkeit sehr ernst zu nehmen“, sagt Prof. Dr. Schulte-Markwort, ehamaliger Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und jetziger Supervisor und Mediator der Paidion Praxis.
Diese Kinder müssen damit zurechtkommen, dass sie trotz guter Intelligenz „schlechtere“ Leistungen erbringen, da sie bei Klassenarbeiten nicht rechtzeitig fertig werden, ihre Schrift nicht zu lesen ist, oder weil sie im Sportunterricht nicht mitziehen können.
Bei der Dyspraxie handelt es sich um eine Teilleistungsstörung. Als Teilleistungsstörungen bezeichnet man ausgeprägte Lernschwächen, die sich auf einzelne Fähigkeiten beziehen. Die Symptome dieser spezifischen Teilleistungsstörung beziehen sich in der Regel auf Koordination, Feinmotorik, manchmal auch Grobmotorik, aber vor allem auf die Auge-Hand-Koordination.
Diese Symptome sind typisch für die Diagnose Dyspraxie. Am UKE wird diese Diagnose meist zunächst durch den Hamburg-Wechsler Intelligenztest IV (HAWIK-IV) festgestellt. Dabei sieht man bei diesen Kindern eine signifikant niedrigere Verarbeitungsgeschwindigkeit, welche in diesem Test wesentlich durch die Auge-Hand-Koordination erhoben wird.
Die Dyspraxie lässt sich nicht ...
... auf bestimmte Ursachen zurückführen, da diese bislang noch nicht bekannt sind. „Was wir wissen ist, dass in den Gehirnen dieser Kinder die neuronale Vernetzung zwischen den Bereichen, in denen die Motorik organisiert ist und in denen das Sehzentrum liegt, ungenügend ist“, erklärt Prof. Schulte-Markwort. Aller Wahrscheinlichkeit nach entwickelt sich diese Vernetzung im Laufe der fetalen Hirnentwicklung ab einem gewissen Stadium nicht weiter. Bei dieser Störung spricht man von einem umschriebenen Entwicklungsrückstand der motorischen Funktionen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dieser Rückstand nicht als ein Rückstand verstanden werden darf, der wieder aufgeholt werden kann, denn das ist in den meisten Fällen nicht möglich.
Prof. Schulte-Markwort erklärt diesen Sachverhalt den Eltern von betroffenen Kindern meist wie folgt: „Das ist ein bisschen wie ein zu kurzes Bein. Das hat man nun mal ein Leben lang“. Dennoch können und sollten Maßnahmen ergriffen werden, um motorische Fähigkeiten zu fördern. Je nach Ausprägungsgrad und in Abhängigkeit der Bereiche mit Defiziten, kann durch Ergotherapie, Krankengymnastik sowie Lerntherapie eine gute Unterstützung gegeben werden.
Ein sehr wichtiger Bereich, der durch die Dyspraxie beeinflusst wird und somit zu Nachteilen bei den Kindern führen kann, ist die Schule. Von Fach zu Fach sollten daher die jeweiligen Schwächen des Kindes betrachtet werden, um einen individuellen Nachteilsausgleich zu schaffen. Häufig sind Lehrer dazu bereit den Kindern mehr Zeit für die Lösung einer gestellten Aufgabe zu geben. Besser wäre es allerdings, wenn diese Kinder weniger Aufgaben in derselben Zeit bewältigen müssen. So können sie mit den anderen Klassenkameraden gleichzeitig fertig werden und fühlen sich nicht als „Außenseiter“, weil sie länger in der Klasse sitzen müssen.
Unterstützung für Dyspraxie-Kinder
Worauf sollte man also im Umgang mit Dyspraxie-Kindern besonders achten und wie kann man sie am besten unterstützen?
„Den Kindern kann man tatsächlich am besten durch Nachsicht helfen“, so Prof. Schulte-Markwort. Die „Tollpatschigkeit“ darf ihnen nicht als Nachlässigkeit oder Dummheit unterstellt werden. Darüber hinaus darf nicht erwartet werden, dass sich an dem Entwicklungsrückstand unmittelbar etwas ändern wird, da es keine Frage des Einsatzes ist, sondern eine Frage der Teilleistungsstörung ist. Manchmal haben Kinder mit Dyspraxie eine schlechte Raumorientierung. Insofern macht es keinen Sinn sich darüber zu ärgern, wenn diese Kinder zum Beispiel morgens an die falsche Autotür gehen, obwohl sie wissen müssten, wo sie eigentlich einsteigen sollen. Stattdessen benötigen diese Kinder viel Trost und Unterstützung. Selbiges gilt natürlich für die gesamte Familie. Je nach der Ausprägung der Dyspraxie, benötigen die Kinder manchmal mehr-, und manchmal weniger Unterstützung. Die Eltern müssen sich bewusst machen, dass es sich um keinen Erziehungsfehler handelt und sie somit keinerlei Schuld an der Erkrankung ihres Kindes tragen.
Prof. Schulte-Markwort weist auf die Bedeutung der Erkrankung hin. „In den letzten Jahren haben sich immer mehr Kinder mit einer Dyspraxie bei mir vorgestellt, da ich mich etwas auf diesem Gebiet spezialisiert habe“, so der Kinderpsychiater. Die Ursache für den Anstieg der Anfragen von betroffenen Familien ist vor allem auf die Unbekanntheit der Dyspraxie in der Bevölkerung zurückzuführen. Damit das Thema in Deutschland stärker zur Kenntnis genommen wird, ist Öffentlichkeitsarbeit ein wichtiger Schritt vorwärts, um auch Unterstützungsangebote für betroffene Familien aufzuzeigen.