Belinda
Das sind wir…
… eine fröhliche Familie: Mama Anette, 35 Jahre alt mit meinem Wirbelwind Belinda, 6 ½ Jahre und meinem Wildfang Clara, 4 Jahre. Meine beiden Mädchen haben besondere Geschichten, sie kamen als ein Geschenk in mein Leben - sie sind Pflegekinder. Aus diesem Grund sind die Namen zum Schutz der Kinder pseudonymisiert, dem Alphabet folgend. Belinda zog mit 4 ½ Jahren im Aug 2017 und Clara mit 3 ½ Jahren im Nov 2018 bei mir ein. Somit kann ich aus den ersten Lebensjahren und der Entwicklung der Mädchen nicht berichten.
Ein aufregender Tag
Am 04.08.2017 zieht Belinda bei mir ein – Glück purzelt in mein Leben. Wirklich vorbereitet war ich nicht, die Anfrage vom Jugendamt kam und ich hatte gerade mal zwei Wochen Zeit mich zu entscheiden, mich zu sammeln, mich vorzubereiten. Zu dieser Zeit war auch ein Urlaub mit meinen Freundinnen geplant, den ich nicht streichen wollte. So fuhr ich in die Niederlande in den Urlaub, unterbrach diesen, fuhr zum vereinbarten Termin nach Deutschland zurück, um die Kleine kennen zu lernen.
Ein zuckersüßes Mädchen mit großen Kulleraugen und einem neckischen Lächeln begrüßte mich mit ihrer offenen und fröhlichen Art. Wir verbrachten gemeinsam schöne Stunden, malten, bastelten und lernten uns kennen. Nach dem ersten Kennenlernen stand dann ziemlich schnell fest, dass sie bei mir Herzlich Willkommen ist. Zurück in den Niederlanden kaufte ich mit den Freundinnen die „Erstausstattung“ für ihren Einzug, denn Kindersachen besaß ich zu dem Zeitpunkt keine. Und nach dem dritten Treffen kam der Tag, Belinda zog ein. Wir gewöhnten uns ziemlich schnell aneinander und Belinda blühte von Tag zu Tag immer mehr auf.
Belindas Entwicklungsverzögerungen
Ziemlich schnell wird deutlich, dass sie sprachliche Rückstände hat. Sie spricht mit ihren 4 ½ Jahren in Ein-Wortsätzen, in Babysprache (alla, alla; heia, heia) und ist für Außenstehende überhaupt nicht zu verstehen. Auch motorisch gab es Auffälligkeiten. Ständig stolperte sie, kam oft mit Blessuren und Schürfwunden im Gesicht, Armen, Ellenbogen und Knien aus dem Kindergarten nach Hause. Hüpfen ging selbst auf zwei Beinen nicht, sie setzte an, konnte sich aber vom Boden nicht lösen.
Das Laufen sah sehr staksig und behäbig aus und Balancieren und Klettern ging nur mit Hilfestellung. Roller und Fahrrad standen in der Garage, daran war nicht mal zu denken. Gleichzeitig Gleichgewicht halten, treten und lenken war unvorstellbar. Auch feinmotorisch fielen große Baustellen auf. Das Malen ging nur sehr langsam und stockend, mehr als Gekritzel war auf den Zeichnungen nicht zu erkennen. Die Schere hielt sie so verrenkt, dass es mich nicht wunderte, dass sie weit neben der Linie schnitt.
Um Dinge zu erledigen, brauchte sie gefühlt Ewigkeiten, Erinnerungen meinerseits waren nötig, dass sie nicht vergaß, was sie gerade erledigen wollte. Im Kindergarten war sie oft die letzte und die Hälfte ihrer Sachen lagen verstreut herum und wurden vergessen. Diese ganzen Entwicklungsverzögerungen von Belinda sind aufgrund ihrer Vorgeschichte nicht verwunderlich, sie wurde stark vernachlässigt und kaum gefördert, so die Aussagen von diversen Stellen (Jugendamt, Ärzten, Therapeuten und Kindergarten).
Dass da evtl. etwas mehr im Argen sein könnte,
daran dachte keiner mit dieser Vorgeschichte.
So nahm auch ich erstmal an, mit etwas Förderung wird sie es schon aufholen. Termine beim örtlichen Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) wurden festgelegt, allerdings mussten wir uns bis zu diesen Terminen aufgrund von Wartezeiten vier Monate gedulden. Bis dahin wollte mir der Kinderarzt auch keine Verordnungen für Ergotherapie und Logopädie verschreiben. Die Berichte von Belindas früherem Arzt und SPZ reichten aber leider nicht aus. Der Kinderarzt beabsichtigte, jetzt die aktuelle Untersuchung im SPZ abzuwarten, obwohl sie schon früher Logopädie erhalten hatte und die Auffälligkeiten deutlich sichtbar waren.
So fing ich an, sie daheim in allen möglichen Bereichen zu fördern - mit dem Hintergedanken, ihre Entwicklungsverzögerungen liegen an der Vernachlässigung und der Nicht-Förderung. Durch meine Berufstätigkeit als Erzieherin kenne ich verschiedene Beobachtungsbögen und füllte somit die BASIK-Beobachtungsbögen für sie aus, worin die Sprachbereiche Semantisch-lexikalische, Phonetisch-phonologische, Prosodische, Morphologisch-syntaktische, Pragmatische Kompetenzen und Literacy abgefragt werden.
Die Ergebnisse: Erschreckend und sehr bedenklich
In allen Punkten waren Belindas Ergebnisse im kritischen Bereich. In meiner gesamten Tätigkeit als Erzieherin ist mir ein derart schlechtes Ergebnis niemals begegnet. Auch ließen mich die Berichte der ehemaligen Logopädin stutzen.
Beide vorliegenden Berichte, zwischen denen ein gesamtes Therapiejahr vorlag, waren völlig identisch, es waren keinerlei Fortschritte ersichtlich. Zu diesem Zeitpunkt zweifelte ich die Kompetenz der Logopädin an, mir war nicht klar, dass auch ihr das Störungsbild einfach unbekannt war. Dennoch machte ich mir erstmal keine Gedanken über ihre sprachlichen Schwierigkeiten. Erstens schrieb ich dies ihrer Vernachlässigung im frühen Kindesalter zu und zweitens wies das Kind einen Kreuzbiss auf.
Zu der Zeit war ich noch naiv genug zu glauben, dass ihre sprachlichen Probleme daher rührten und sich nach einer OP und Korrektur des Kreuzbisses die Sprache schnell von alleine regulieren würde. Der Termin beim Kieferorthopäden im UKM Münster war schnell gemacht, die Untersuchung kam und damit die Überraschung: Anatomisch ist im Kieferbereich alles in Ordnung, es muss nichts korrigiert werden! Der Kieferorthopäde klärte mich anhand eines Kiefer-Modells auf, dass Belinda beim Sprechen ihren Unterkiefer von sich aus zur Seite bewegt. Den Grund dafür konnte sich der Arzt selbst nicht erklären, er hätte so etwas noch nie gesehen. Bähm…. Das saß erstmal… Wie bitte??? Ihre sprachlichen Probleme liegen nicht am Kreuzbiss… sie hat überhaupt keinen anatomischen Kreuzbiss… es wird keine operative Korrektur geben und somit auch nicht die erhofften sprachlichen Erfolge…??? Ich musste mich erstmal sammeln.
Belindas komplette Geschichte ...
... kann man in unserem Buch Dyspraxie-Kinder nachlesen.